Rezension über das Buch von Edda Hattebier:

Reifeprüfung – Eine Familie lebt mit psychischer Erkrankung
(Hg. Heinz Deger-Erlenmaier), Edition Balance im Psychiatrie-Verlag, Bonn, 1999

 

Den Mantel des Schweigens gelüftet


Um es gleich vorweg zu sagen: Ich bin befangen! Ich werde dieses Buch vorbehaltlos empfehlen, denn es lag mir schon immer am Herzen!
Es ist ein Buch mit einer langen Geschichte – und das im doppelten Wortsinn.
Hanna Arnold erzählt darin ihr Leben als Mutter von der Taufe ihres einzigen Sohnes bis zu dessen Auszug in eine eigene Wohnung – dawischen liegen über vierzig Jahre, diverse Klinikaufenthalte des Sohnes Konrad und alle Höhen und Tiefen eines Lebens mit einem Angehörigen, der psychisch krank ist.
Zusammengefasst in Stichworten und angefangen bei den ersten Anzeichen der Schizophrenie des Sohnes bis hin zur Unterstützung in der selbst gegründeten Angehörigengruppe liest sich ihr beklemmend und erfrischend beschriebenes Wechselbad der Gefühle folgendermaßen: Sträuben, Leugnen, Unverständnis, Selbstvorwürfe, Hoffnung auf Heilung, Einsamkeit, Warten, Angst, Nicht-Aushalten-Können, Unberechenbarkeit, Sehnsucht nach Ruhe. Und wieder Hoffnung, Zusammenreißen, und wieder Angst, ewige Ambivalenz. Informieren, gesunder Egoismus, kleine Freuden, schlechtes Gewissen, innere Zerrissenheit, Machtlosigkeit, Aussprechen mit anderen, lange genug versteckt, Mut fassen, neue wertvolle Erfahrungen, Zusammenhalt und Unterstützung. Bescheiden und ruhiger werden, weiterkämpfen, immer weiter kämpfen und lieben ...
Diese lange Geschichte ist schon etwas Besonderes. Das spürte auch Heinz Deger-Erlenmaier, als er das Ehepaar Breu als Mitbegründer der Österreichischen Angehörigenvereinigung „Hilfe für Angehörige psychisch Erkrankter (HPE)” Ende der 80er Jahre kennenlernte. Könnte das Beispiel der Arnolds nicht aufgeschrieben und als „Mutmacher” öffentlich gemacht werden?
Es gab (und gibt meines Wissens) als Angehörigenbiografie nichts Vergleichbares und so war und ist der Psychiatrie-Verlag der richtige Ort für eine solche Veröffentlichung, zumal dessen Programmteil „Angehörigenliteratur” neben der Vielzahl von „Betroffenenberichten” und „Profititeln” durchaus unterrepräsentiert war.
Aber wer sollte das Buch schreiben? Mit dieser Frage begann die zweite lange Geschichte: Neben einem treu geduldigen Ehepaar Arnold und vielen Unterstützern der Idee im Verlag führte Edda Hattebier, Soziologin und freie Autorin, diese Geschichte im Gegensatz zur erzählten doch zu einem Happy End – und das mit Akribie, größtem Einfühlungsvermögen und Bravour!
„Zu Anfang war ich einfach nur hilflos, ängstlich und irritiert gewesen, weil ich nicht begriff, was mit Konrad vor sich ging. Da war immer die Hoffnung gewesen, dass sich alles zum Guten wenden würde ...” Zu welcher Geschichte mögen diese Sätze gehören – zu der im Buch oder um das Buch?
“Da war immer die Hoffnung gewesen, dass sich alles zum Guten wenden würde, dass Konrads Krankheit nur eine vorübergehende Krise sein würde, er studieren und einen Beruf ausüben, heiraten und eine Familie gründen könnte. Isoliert und von den Ärzten allein gelassen, hatten mein Mann Ludwig und ich immer wieder aufs Neue versucht für Konrad eine gute Klinik zu finden, hatten uns beleidigen und beschuldigen lassen. Nur selten waren uns in der Zeit Menschen begegnet, die uns und vor allem Konrad wirklich ernst nahmen.
Erst langsam war in mir aus diesen Erfahrungen der nötige Wille gewachsen, dieses Verhalten nicht mehr widerspruchslos hinzunehmen, war ich aus dem Schneckenhaus herausgekrochen, um für mich selbst und für andere, sowohl Eltern als auch Patienten, etwas zu tun. Der Durchbruch kam mit der ersten Angehörigengruppe ...”
Leider ist es (noch) nicht selbstverständlich, öffentlich zu erzählen, wenn man mit einer psychischen Krankheit (in der Familie) konfrontiert ist, dazu sind Angst, Abwehr und das „Informationsloch” noch viel zu groß. Insofern leistet Frau Arnold mit dem Erzählen ihres Lebens neben vielem anderen vorher wiederum Pionierarbeit und dafür gebührt ihr und ihrer Familie Dank und Anerkennung.
„Und manchmal, wenn ich zurückschaute, hatte ich das Gefühl, an dieser Aufgabe gewachsen zu sein”, schreibt sie am Ende. Das gilt wohl ebenso für alle Beteiligten an diesem besonderen Buchprojekt. Schön, dass es geklappt hat – es könnte ein zweiter „Freispruch der Familie” werden!

 

Hartwig Hansen, Hamburg

 

Erschienen in: Brückenschlag, Zeitschrift für Sozialpsychiatrie, Literatur, Kunst
Band 15, Neumünster, Paranus Verlag, 1999