Rezension über das Buch von Bruno Hildenbrand:
Genogrammarbeit für Fortgeschrittene – Vom Vorgegebenen zum Aufgegebenen Heidelberg, Carl-Auer Verlag,
2018
"Ich selbst bin ein Erstgeborener mit einer neun Jahre jüngeren Schwester. Wenn mich jemand sensu König etikettieren würde, hätte er mit ernsthaften Schwierigkeiten zu rechnen."
Bei dieser Fußnote 110 (von insgesamt 135) musste ich schmunzeln – wie immer wieder bei der Lektüre "des neuen Hildenbrands". An dieser Fußnote lässt sich einiges in Bezug auf den Geist dieses Buches ablesen:
– Der Autor scheut sich nicht, seinen persönlichen Hintergrund einzubringen. Im Gegenteil.
– Er verwahrt sich energisch gegen zu plumpe und rasche Zuschreibungen und Interpretationen. Denn: "Es kommt, wie immer, auf den Einzelfall und damit auf den Kontext an." (91)
– Vom "König-Sein" will er (trotz seiner unbestrittenen Verdienste in diesem Feld) nichts wissen.
– Und er droht (eventuell doch im Sinne eines erstgeborenen großen Bruders und das noch als 70-Jähriger) humorvoll "eine blaue Nase" an.
Der Autor mag mir diese persönliche Deutung verzeihen, denn er schreibt selbst: "In der menschlichen Welt kann das Deuten nicht eliminiert werden." (63)
Neben der stattlichen Zahl an Fußnoten – wohl dem am Ende des Buches erwähnten "Stapel der Notizen aus den letzten Jahren" geschuldet – gibt es unter den sechs Kapitelüberschriften 1. Einführung, 2. Vornamen als Deutungsressourcen, 3. Geschwisterbeziehungen, 4. Weiterentwicklungen in der Genogrammarbeit, 5. Integrative Darstellung und 6. Immer wieder gestellte Fragen, ungefähr hundert Unterüberschriften auf 212 Buchseiten.
Das macht das Lesevergnügen einerseits kleinteilig und andererseits komplex. Der Autor bekennt als emeritierter Professor für Sozialisationstheorie und Mikrosoziologie: "Es ist meine Sache nicht, dem süßen Gift der Vereinfachung zu erliegen ..." (196) Das Buch wendet sich also im doppelten Sinne an "Fortgeschrittene".
Hildenbrand geht in seiner Arbeit von den ältesten verfügbaren Daten der (Index)Familie aus und rekonstruiert sequentiell Generation um Generation – siehe seine "Einführung in die Genogramarbeit" von 2005, dessen Lektüre durch sein hier vorgestelltes Buch nicht ersetzt werden kann, wie er schreibt. Er sagt: "Mich interessiert der Prozess des Werdens. Ich möchte nicht anfangen mit dem, was ist, sondern rekonstruieren, was wird." (186)
Dazu zitiert er Albert Camus, "mein Idol von Jugend an": "Man wird nicht stark, schwach oder eigenwillig geboren. Man wird stark, man erwirbt einen klaren Blick. Das Schicksal liegt nicht im Menschen, sondern umgibt ihn." (37) und analysiert diese drei Sätze ausführlich.
In den folgenden Einzel-Kapiteln präzisiert Hildenbrand spannende Ideen für die vertiefende Genogrammarbeit:
– "Vornamen sind heuristische Ressourcen, die man nicht ungenutzt liegen lassen sollte." (101) Denn: "Der Name ist (mitunter, Anm. H.H.) verknüpft mit der Vergabe eines Auftrags an das Kind. Sie besteht darin, an die Vergessenen zu erinnern, allgemeiner formuliert: die Familie zusammenzuhalten." (88) Besonders eindrücklich fand ich den Kasten zu der Frage, wie die Kinder von Rudi und Gretchen Dutschke zu ihren Namen kamen (84).
– Die Bedeutung des "Vorgegebenen" in den Geschwisterbeziehungen (ab 102);
– die Verwendung von Fotos in der Genogrammarbeit (ab 114);
– Genogrammarbeit in der Laufbahnberatung (Martin Hertkorn, INQUA-Institut Berlin, ab 158);
– ein Fallbeispiel (unter vielen erhellenden in diesem Buch) zur integrativen Darstellung der entwickelten Konzepte (ab 168) sowie:
– Hildenbrand beantwortet die ihm immer wieder gestellten Fragen von Praktikern und von Theoretikern, zum Beispiel: Beginne ich Genogramme unten oder oben? (ab 180)
Besonders spannend fand ich die Seiten "zum Bezug der Genogrammarbeit zu Familienaufstellungen" (187 ff.) mit der Schilderung einer turbulenten Begegnung mit Bert Hellinger 1993.
Fazit: Der "neue Hildenbrand" ist für alle Genogramm-Fans eine ebenso anspruchsvolle wie kurzweilige Lektüre eines vor Ideen sprühenden Tausendsassas mit langjähriger Erfahrung!
Hartwig Hansen, Hamburg
Erschienen in der Zeitschrift Kontext 2/2019, S. 221-223