Rezension über das Buch von Oliver Sacks:
Onkel Wolfram – Erinnerungen
Reinbek, Rowohlt Verlag, 2003
Metalle, Metaphern, Memoiren
Ende 1997 erreicht Oliver Sacks ein Paket von einem alten Freund. Heraus fällt ein kleiner Barren aus sehr dichtem, grauen Metall, der mit sonorem Klang auf dem
Fußboden aufschlägt. „Ich erkannte das Metall augenblicklich – an der Art, wie es sich anfühlte, und am Klang. Sofort sah ich Onkel Wolfram vor mir, wie er mit seinem Klappkragen im Labor saß,
die Hemdsärmel aufgerollt, die Hände schwarz von Wolframpulver.“ Wolfram heißt der chemische Grundstoff, den man u.a. für die Herstellung von Glühfäden braucht, und Onkel Wolfram – englisch Uncle
Tungsten – nannte Oliver Sacks als Kind seinen Lieblingsonkel Dave.
„Ich beschloss, eine kleine Skizze über Onkel Wolfram zu schreiben, doch die Erinnerungen, einmal wachgerufen, ließen sich nicht mehr aufhalten. Was als Skizze von
einer Seite begonnen hatte, entwickelte sich zu einer gewaltigen Ausgrabung...“
Und dieser Ausgrabung verdanken wir die Autobiografie des Autors, der medizinische Fallstudien mit Titeln wie z.B. „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut
verwechselte“ zur literarischen Kunstform erhob.
Sacks, Jahrgang 1933, nimmt uns mit auf die Reise ins London vor dem zweiten Weltkrieg. Er wächst in einer großen, weit verzweigten Familie auf und wird zur
Sicherheit während des Krieges in eine kleine Dorfschule verschickt, wo er unter einem sadistischen Lehrer leidet. Später resümiert er über seine Leidenschaft für Primzahlen: „Sie können nicht
geteilt, nicht gebrochen werden, wie man es mit mir so oft versucht hat.“
Das offenbar in der Familie Sacks tradierte Interesse an den Naturwissenschaften beeinflusst den heranwachsenden Oliver. Er ist getrieben von enormem Wissensdurst
und er liebt Experimente.
Als Schlüsselerlebnis seiner Jugend beschreibt er den Besuch im Naturkundemuseum in South Kensington, in dem er zum ersten Mal in seinem Leben das Periodensystem –
mit den Proben aller Elemente – sieht. Besonders die reaktionsträgen Edelgase hatten es ihm angetan: „Manchmal identifiziere ich mich mit ihnen. Ich stelle sie mir einsam, verloren und voller
Sehnsucht nach Bindung vor.“
Die Zusammenfügung der Erlebnisse seiner Kindheit und Jugend mit den Beschreibungen seiner Faszination zum Beispiel für die chemischen Elemente sind die Edelsteine
seiner Erinnerungen. Wie nachhaltig ihn diese Faszination aus seinen Kindertagen geprägt hat, formuliert Sacks am Schluss seines Buches: „Die alte Begeisterung kommt hin und wieder in
merkwürdigen Assoziationen und Impulsen zum Vorschein: in dem plötzlichen Wunsch nach einer Kadmiumkugel oder nach dem Kältegefühl eines Diamanten an meinem Gesicht. Die Nummernschilder der Autos
beschwören unmittelbar die Namen von Elementen herauf, besonders in New York, wo so viele mit U, V, W und Y beginnen. Doch mein Lieblingstraum spielt in der Oper. Ich bin Hafnium und teile mir in
der Met eine Loge mit den anderen schweren Übergangsmetallen – meinen alten und hoch geschätzen Freunden – Tantal, Rhenium, Osmium, Iridium, Platin, Gold und Wolfram.“
Metalle und die anderen Elemente des Peridodensytems sind in Sacks persönlichem Chemie- und Physiklehrbuch mit spannenden Ausflügen in die eigene und die
Wissenschaftsgeschichte die eigentlich handelnden „Personen“.
Sacks lebendige Erzählweise und die hervorragende Übersetzung von Hainer Kober machen den mitunter nicht so leicht nachvollziehbaren Inhalt zu einem lehrreichen
Lesevergnügen besonderer Art.
Und vor allem kann man durch die vielen persönlichen, oft sehr humorvollen Geschichten Sacks Werdegang vom jugendlichen Hobbyforscher in einem Schuppen bis hin zum
bedeutenden Neurologen und Psychiater nachvollziehen. Denn nach seiner Leidenschaft für Chemie entdeckte er sein Interesse für die Gene, für das Gehirn und noch später für die Persönlichkeiten
seiner Patienten, die er dann in vielen seiner Bestseller beschrieb.
Hartwig Hansen, Hamburg
Erschienen in: Brückenschlag, Zeitschrift für Sozialpsychiatrie, Literatur, Kunst, Band 19,
Neumünster, Paranus Verlag, 2003