Rezension über das Buch von Irvin D. Yalom:
In die Sonne schauen – Wie man die Angst vor dem Tod überwindet.
München, btb Verlag, 2008
Weckruf und Welleneffekt
„Der Sonne und dem Tod kann man nicht ins Gesicht blicken.“
Dieses Zitat, die Maxime 26 von Francois de la Rochefoucauld (1613-1680), stellt der amerikanische Psychoanalytiker und Bestsellerautor seinem Buch voran, in dem
er sich aufmacht, eben doch in die Sonne zu schauen und sich dem schwierigen Thema der Todesangst zu stellen.
„Es ist ein zutiefst persönliches Buch, das auf meine eigene Konfrontation mit dem Tod zurückgeht“, schreibt er dazu in seinem Vorwort. „Ich teile die Furcht vor
dem Tod mit jedem menschlichen Wesen: Sie ist unser dunkler Schatten, der uns immer begleitet. Die folgenden Seiten enthalten das, was ich aus meiner eigenen Erfahrung über die Überwindung
der Todesangst gelernt habe – aus der Arbeit mit meinen Patienten und aus den Gedanken jener Autoren, die für mein Werk entscheidend waren.“ (S. 7)
Dieses Versprechen hält er und gliedert sein Buch dabei in sieben gut lesbare Kapitel, in die er – wie in seinen anderen Büchern bewährt – zahlreiche lebendige
Beispiele aus seiner Praxis einstreut.
Aus der Fülle der Ideen, denen Yalom nachgeht, möchte ich die drei für mich besonders eindrücklichen hervorheben: Der Weckruf, der Welleneffekt und die Bedeutung
von Beziehung bei der Überwindung von Todesangst.
Dem „Weckruf“ widmet Yalom das dritte Kapitel und beschreibt darin die Erfahrung des „Erwachens“ in einem bestimmten Moment, einer besonderen Situation, die uns
unsere Vergänglichkeit bewusst macht und uns die Chance gibt, unser Leben zu reflektieren, eventuell zu verändern, auf jeden Fall neu zu würdigen. Die Trauer um einen geliebten Menschen kann
ein Weckruf sein genauso wie eine große Entscheidung, ein „Meilenstein des Lebens“ oder sogar ein Traum.
Im vierten Kapitel: „Die Macht der Ideen“ schreibt Yalom: „Von all den Ideen aus meinen praktischen Jahren, wie man der Todesfurcht und der Verzweiflung eines
Menschen über die Vergänglichkeit des Lebens entgegentritt, halte ich den Gedanken des Welleneffektes für einzigartig überzeugend. Er bezieht sich auf die Tatsache, dass jeder von uns – oft
ohne bewusste Absicht oder Wissen – konzentrische Einflusskreise erzeugt, die sich jahrelang, und sogar über Generationen hinweg, auf andere auswirken können. Der Effekt nämlich, den wir auf
andere Menschen ausüben, wird wiederum an andere weitergeleitet, ganz ähnlich den kleinen Wellen, die sich in einem Teich ewig kräuseln, bis sie nicht mehr sichtbar sind, auf der Nano-Ebene
jedoch fortlaufen.“ (S. 86)
Und er berichtet schließlich von einer Frau, die sich um afrikanische Kinder mit Aids kümmert. Es ist wenig Hilfe in ihrem Asyl verfügbar. Jeden Tag sterben
Kinder. Gefragt, was sie tue, um die Angst der sterbenden Kinder zu lindern, antwortet sie mit zwei Sätzen: „Ich lasse sie nie allein im Dunkeln sterben, und ich sage zu ihnen: ‚Du wirst
immer hier bei mir im Herzen sein.’“ (S. 131)
Irvin D. Yalom gilt als Begründer der sogenannten Existenziellen Psychotherapie. Übersetzt heißt das vielleicht so viel wie: Wir kommen nicht daran vorbei –
nicht im Leben und schon gar nicht in der Therapie – uns den existenziell bedeutsamen „letzten Dingen“ zuzuwenden und zu stellen: „Meiner Ansicht nach sind es vier letzte Dinge, die für die
Praxis der Therapie besonders relevant sind: Tod, Isolation, Lebenssinn und Freiheit.“ (S. 193)
Mit diesem Buch hat er sich nun selbst dem ersten dieser Grundthemen in beeindruckend persönlicher Weise gestellt. Es ist nicht (nur) für seine
Therapie-Kolleg/inn/en geschrieben, sondern vermittelt sehr viel Grundlegendes und Tröstliches für die engagierte Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des Lebens und ist zugleich ein
Plädoyer für ein bewussteres, aufmerksameres, zugewandteres Leben.
Hartwig Hansen, Hamburg
Erschienen in: Brückenschlag, Zeitschrift für Sozialpsychiatrie, Literatur, Kunst
Band 26, Neumünster, Paranus Verlag, 2010