Beim Phrasenmähen

 

Die Nutzung von Worthülsen im Beratungsgespräch

 

"Was macht man nicht alles, wenn die Frau sich was wünscht ...", ist die kryptische Antwort von Herrn M., ein leicht grau melierter Herr Ende fünfzig, auf meine Einstiegsfrage, was das Ehepaar denn zu mir in die Beratung führe.

Ich widerstehe meinem Impuls, gleich konkret nachzufragen, ob Herr M. denn auch eigene Wünsche habe. Langsam voran!

Offenbar ist Frau M. die treibende Kraft und die meldet sich jetzt umgehend zu Wort: "Ich will ja nichts sagen, aber du beschwerst dich oft genug, dass sich was ändern muss zwischen uns!" Und sagt damit, trotz ihrer Satzeinleitung, schon eine ganze Menge über ihren Mann und ihre gemeinsame Beziehung.

 

Aller Anfang ist schwer – und meist eher unpräzise, weil noch versteckt hinter "Schutzworten und -halbsätzen". Und schon haben wir eine der Hauptfunktionen dessen, worum es in diesem Text gehen soll, nämlich um Phrasen, Floskeln, Worthülsen, also – wie schon gesagt – um Füllwörter, "warme Luft", Plattitüden und Nebelkerzen – im Grunde ein Stück weit um eine kleine Phraseologie in Beratungsgesprächen.

Vom Prinzip her entstammt der Begriff „Phrase dem lateinischen Wort phrasis, was – ich sag mal – quasi so viel heißt wie „aussprechen“, „anzeigen“ oder „rednerischer Ausdruck“.

Und Floskeln sind – im Endeffekt – so etwas wie "Redeblumen", weil sie – wenn man so will – als Verkleinerungsform vom lateinischen flosculus = Blümchen abstammen, heute aber eher nichtssagende, formelhafte Redewendungen meinen. Stimmt's oder hab ich recht?

"Ja, schon gut, man redet viel, wenn der Tag lang ist."

Herr M. hält sich nach wie vor bedeckt und ich weiß immer noch nicht, was das Ehepaar wirklich herführt.

Auch Frau M., attraktiv und resolut, scheint langsam der Kragen zu platzen: "Ich dachte, wir wären schon weiter, Oliver." Pause. "Ich muss ganz ehrlich sagen, bei uns brennt die Hütte, wir haben viel Streit und massive Probleme in den letzten Jahren!"

Aha, ehrliche Aussagen werden von Frau M. als solche angekündigt.

Herr M. seinerseits scheint irgendeine moderne Schulung genossen zu haben, als er erwidert: "Probleme? Ich würde sagen: das sind Herausforderungen."

Okay, Phrasen sind offenbar auch so etwas wie Beschwichtigungsversuche ...

"Und was konkret fordert Sie heraus, Herr M.?", kann ich mich nun doch nicht mehr zurückhalten.

"Das Ding ist ...", fällt Herr M. spontan in eine Art Jugendslang mit anschließendem Klartext, "Katja und ich haben seit ungefähr drei Jahren keinen Sex mehr. Das ist natürlich nicht zielführend."

Geht doch, denke ich gerade, als Frau M. ergänzt: "Ich hab mir sagen lassen, das könnte unter Umständen mit einer schlechten Kommunikation in einer Ehe zu tun haben, Oliver."

Oha, jetzt kommt auch noch ein spitz-süffisanter Unterton hinzu.

Ruhig Blut!

"Okay, Spaß beiseite", setzt Frau M. schon nach. "Ich hab da mal eine Frage" (und ich höre, wie das "an Sie als Experten" dabei mitschwingt), "kennen Sie das aus Ihrer Beratungserfahrung oder anders gefragt: Sind drei Jahre ohne Sex normal?"

Frau M. zieht also den beliebten "Experten-Joker", den ich traditionell nicht annehme, sondern zurückfrage: "Wie geht es Ihnen? Ist es für Sie okay?"

"Wenn Sie mich so fragen, nicht wirklich, deswegen sind wir ja zu Ihnen gekommen ..."

Das ist meine Chance. Jetzt tut sich ein kleiner Spalt auf, den ich zu nutzen versuche: "Und was genau würden Sie gerne ändern?"

Jetzt kann es wirklich losgehen ...

 

Wenn ich gedanklich die Beratungsgespräche Revue passieren lasse, sind sie oft ein Drahtseilakt und eine fortwährende Abwägung, ob ich den offenbar notwendigen Schutz der Phrasen und Floskeln bestehen lasse oder mich für das Phrasenmähen entscheide, das heißt konkret nachfrage und um Präzisierung bitte.

Wir haben uns sicher auch schon so an zahlreiche Füllworte gewöhnt, dass wir sie gar nicht mehr als solche identifizieren bzw. es uns gar nicht mehr auffällt, wenn wir sie selbst verwenden, weil sie uns vertraut und Teil unseres persönlichen Sprachduktus geworden sind.

Zum Beispiel nötigt mich der Satz: "Im Lauf der Zeit ist es immer schlimmer geworden." regelmäßig dazu, nachzuhaken: "Und was ist 'es' wohl genau? Was konkret ist immer schlimmer geworden?", um vielleicht – je nachdem, es kommt drauf an – sogar dann auch zu ergänzen: "Und was ist eventuell sogar besser geworden?"

Das Gleiche gilt bei den Wischi-Waschi-Antworten "Es hat sich irgendwie nicht ergeben." oder "Da sind wir noch nicht zu gekommen ..." als Antwort auf meine Nachfrage, ob sich das Paar in den letzten Wochen zu einem "Nur-für-uns-zwei-Abend" verabredet habe.

Aber wie dann reagieren, wenn die Plattitüde folgt: "Rom ist ja auch nicht an einem Tag erbaut worden"?

Es bleibt heikel, andere Menschen zur Übernahme von Eigenverantwortung und Veränderung zu ermutigen, ohne oberlehrerhaft zu agieren.

Meine Bitte um Präzisierung kann einerseits als bedrängend erlebt werden, andererseits auch als lang ersehnte Chance, doch zu einer Besserung der Beziehung zu gelangen. Insofern wird uns Beratende beim Phrasenmähen ein gewisser Kredit eingeräumt.

In der Regel entscheide ich mich deshalb doch zum Nachfragen, was genau das Paar gehindert habe, die in der letzten Sitzung als hilfreich kommentierten Maßnahmen im Alltag auszuprobieren.

Und auch dann bleibt es schwierig, wenn die Antwort lautet: "Man macht das ja nicht mit Absicht ... Wir sind eben einfach nicht dazu gekommen ..."

Genau, keine Absicht, kein bewusstes Handeln, keine Möglichkeit zur Veränderung!

Oder wie reagieren auf den beliebten Optimismus-Bonmot: "Da muss man eben das Beste draus machen!" Ich tue es schon fast reflexhaft mit "Und was genau wäre das Beste in diesem Fall?"

Ein fatalistisches "Nützt ja nichts ..." ist auch nicht leicht zu kontern. Wie wäre es mit "Was würde denn etwas nützen?"

Der verzagte Satz "Da kann man wohl nichts machen!" ist eine gute Vorlage für die regelmäßig verwendete Gegenfrage auf alle "man"-Formulierungen: "Und wer genau ist jetzt 'man'?"

Oft bewährt haben sich auch die zwei knappen Worte "Zum Beispiel?" als Bitte zur Konkretisierung.

 

Meine Frau sagt: "Lass den Menschen doch ihre Floskeln!", als ich ihr von dieser Textidee erzähle. Die Floskeln seien so etwas wie die Sättigungsbeilage ohne Nährwert und gleichzeitig das Schmiermittel für schwierige Gespräche, mitunter auch Lückenfüller für Gesprächspausen und notwendig, um selbst die Gedanken genauer formulieren zu können. Manchmal seien sie ja auch nützlich als "Pausetaste", um beim Sortieren von bisher noch Unübersichtlichem etwas Zeit zu gewinnen und die viel zitierten inneren Suchprozesse überhaupt erst zu ermöglichen.

Der Spitzenreiter unter den bewährten "Pausetaste-Formulierungen" lautet: "Das ist eine gute Frage!" und heißt so viel wie: Da muss ich jetzt noch ein bisschen drüber nachdenken! Warten Sie bitte noch einen Moment.

Im Laufe der Jahre habe ich verschiedene Antworten darauf ausprobiert und bin schließlich bei einer geblieben. Diese wiederum lautet: "Vielen Dank, dafür bezahlen Sie mich ..." Um danach ausreichend Nachdenkzeit zu lassen.

Grundsätzlich plädiere ich mit diesem kleinen Text für eine Phrasen-Sensibilierung und sensible Phrasennutzung, um die verbalen "Luftnummern" als Stichworte fragend an die Ratsuchenden zurückzugeben, damit sie die Bilder der eigenen Erfahrungen und Veränderungswünsche vor dem inneren Auge "schärfer einstellen" können.

"Gut, dass wir darüber gesprochen haben", sagt schließlich Frau M. am Ende der Sitzung.

"Und was genau fanden Sie gut?", bleibe ich meiner Linie treu. Ich erhalte sogar eine Antwort und Herr M. einen Informationsgewinn: "Dass Sie nicht locker gelassen und immer wieder nachgefragt haben, wie und über was genau wir streiten und wer zum Beispiel danach den ersten Schritt zur Wiederannäherung macht."

"Ich würde sagen, dann hat sich die Anreise ja gelohnt ... Vielen Dank Ihnen beiden!"

 

© Hartwig Hansen

In: Kontext – Zeitschrift für Systemische Perspektiven, 4/2021