Im Ring mit Gott

 

Als ich nach dem Klingeln die Praxistür öffne, steht Frau G. alleine davor und sagt: "Mein Mann kommt gleich, er verspätet sich etwas."

Sie nimmt im Sessel Platz und schon platzt es aus ihr heraus: "Er will ja gar nicht wirklich, dass wir zusammen leben. Er tut einfach nichts dafür, sich einen neuen Job in Hamburg zu suchen."

Den Hintergrund dieser Beschwerde kenne ich schon aus den vergangenen Sitzungen. Herr G. arbeitet in der Woche als Manager mit viel Verantwortung 250 Kilometer entfernt in einer anderen Stadt.

Als das Paar vor einem Jahr heiratete, hatte er versprochen, sich um eine Tätigkeit in Hamburg zu bemühen.

"Und dann wird er wütend, wenn ich sage, dass ich zunehmend enttäuscht bin, wie lange das schon dauert. Ich kann das nicht mehr aushalten, immer nur auf ihn zu warten. Das ist keine Ehe, und er kapiert das nicht."

Frau G. weint.

 

In den drei bisherigen Treffen kamen die beiden Eheleute einfach nicht auf einen gemeinsamen Nenner, sie konnten sich nicht mehr wirklich erreichen, sondern verharrten dramatisch unflexibel in ihren Vorwurfsschleifen des Modells: "Du musst dich endlich ändern, nur dann haben wir noch eine Chance."

Und so zuckt es mir jetzt durch den Kopf: Nee, das wird nichts mehr! Dieses Paar ist schon zu weit auseinandergedriftet. Es stehen schon zu viele Verletzungen, Beleidigungen, Kränkungen zwischen ihnen, um zu einer neuen Vertrauensbasis zurückzufinden.

So ein Spontanimpuls ist ausgesprochen selten, ich habe mir jedoch angewöhnt, solche "Bauchgefühle" ernst zu nehmen und sie – wenn's passt – auch zu formulieren.

Ich versuche einen vorsichtigen Vorstoß: "Sollen wir heute einfach mal gemeinsam über die Möglichkeit einer Trennung nachdenken?"

Frau G. schüttelt energisch mit dem Kopf, während sie erneut ins Papiertuch schnäuzt.

"Nein, das möchte ich auf gar keinen Fall. Ich will es weiter versuchen."

Oha, wie soll das gehen, frage ich mich innerlich. Mein Gefühl sagt mir doch – deutlich wie selten –: diese Beziehung ist gescheitert.

 

Das Klingeln von Herrn G. gewährt mir weitere Bedenkzeit. Mal sehen, was er heute besprechen möchte.

Die nicht stattfindende Begrüßung der Eheleute bestätigt meinen Es-ist-wohl-schon-zu-spät-Eindruck. Herr G. geht schweigend an seiner Frau – eben hat sie noch geweint – vorbei und fällt, auffällig erschöpft, in seinen Sessel.

Er entschuldigt sich wegen des Staus auf der Autobahn bei mir, nicht bei seiner Frau, und vermeidet auffällig jeden Blickkontakt.

Herr G. ist, salopp gesagt, fix und fertig. Und er findet dramatische Worte dafür: "Ich fühle mich erniedrigt, ungerecht behandelt und leer. Ich habe keine Kraft mehr, den fortgesetzten Vorwürfen meiner Frau etwas entgegenzusetzen. Es stimmt schlichtweg nicht, dass ich ein Zusammenziehen boykottiere, es gab einfach noch keine passende Alternative in Hamburg."

"Du hast gesagt, du wolltest Martin dazu treffen und fragen, ob er Ideen hat", geht Frau G. ansatzlos in den Angriffsmodus über.

Von Martin, einem befreundeten Headhunter im gehobenen Segment, war schon mal – ich erinnere mich dunkel – die Rede gewesen.

"Das mache ich auch noch", sagt Herr G. knapp und verstummt.

Frau G. schaut Hilfe suchend zu mir.

Ich möchte mich auf diese Diskussion ungern einlassen und frage: "Was wollen Sie heute miteinander besprechen?"

"Ich hab ja schon gesagt, wie es mir geht. Ich bin leer und absolut resigniert. Ich brauche ein paar Tage Rückzug, um wieder aufzutanken."

Und wieder lässt Frau G. das nicht gelten und legt nach: "Das sagst du jedes Mal. Dann warte ich Tage auf ein Zeichen von dir, ohne dass was geklärt ist, und dann soll ich so tun, als sei alles wieder in Ordnung. Das geht nicht mehr. Du musst was ändern, Patrick!"

"Sehen Sie, sie lässt mich einfach nicht in Ruhe!"

 

Nun ist es auch egal, denke ich, und höre mich – auch wenn Frau G. es nicht wollte – sagen: "Das klingt absolut verzwickt. Wie wäre es, wenn wir heute mal über die Möglichkeiten einer Trennung sprechen? Würde Sie das entlasten?"

"Nein, auf keinen Fall!", höre ich Frau G., die erneut zu weinen beginnt. "Das will ich nicht!"

Herr G. reagiert nicht auf die Tränen seiner Frau, sondern sitzt erstarrt in seinem Sessel.

Boah, das ist anstrengend.

Ich sage schließlich: "Es gibt einen sehr schönen Satz zum Thema Aufgeben. Der lautet: 'Das Letzte, was du darfst, ist aufgeben.'"

Frau G. schaut mich fragend an, es rattert hinter ihren verweinten Augen.

"Ich will aber nicht aufgeben", sagt sie erneut. "Ich habe es vor Gott versprochen, dass wir in guten und in schlechten Tagen zusammenhalten. Und ich weiß, dass es wieder gute Tage geben kann, wenn mein Mann endlich Ernst macht mit dem Umzug."

Ich übergehe die bekannte Vorwurfsschleife – das mit Gott scheint mir im Moment viel größere Bedeutung zu haben.

"Aha, verstehe, das Ganze hat auch etwas mit Ihrem Versprechen vor Gott zu tun."

"Ja."

Und innerlich denke ich: Ach nöö, mischt der sich jetzt auch noch ein, wenn zwei Menschen sich das Leben schon so schwer machen, dass sie sich eigentlich besser trennen sollten. Der soll sich gefälligst aus meiner Beratung raushalten!

Netter Wunsch. Für Frau G. hat ihr Eheversprechen offenbar höchste Priorität. Also langsam voran:

"Was sagt Ihr Gott wohl zu Ihrer verzwickten Situation?"

"Ich bete jeden Tag zu ihm und frage, was ich machen soll."

"Und antwortet er?"

"Ja, er sagt, ich muss weiter durchhalten und an Patrick und unsere Ehe glauben."

"Gelingt Ihnen das?"

Frau G. antwortet nicht, wieder fließen die Tränen.

Ich belasse es erst einmal dabei und wende mich an den versteinerten Herrn G.
"Wie ist das bei Ihnen? Sprechen Sie auch mit Gott?"

"Nein, nicht wirklich. Für mich gilt, dass ich es Lena versprochen habe, zu ihr zu stehen. Aber heute kann ich das irgendwie nicht, weil so viel vorgefallen ist."

Es bleibt offenbar bei der lähmenden Patt-Situation. Herr G. will einfach nur noch weg und sich schützen, Frau G. ist verzweifelt und einsam. Nicht nur deshalb sucht sie wohl Kontakt und Unterstützung im Gebet.

 

Was also kann ich tun? Wie stark ist eigentlich diese Instanz, dem das Versprechen gegeben wurde, durchzuhalten und zu leiden, egal, was passiert? Habe ich eine Chance, mit Frau G. darüber ins Gespräch zu kommen?

Ich starte einen ersten Versuch.

"Sie sagten, der liebe Gott hört Ihnen aufmerksam zu ..."

"Ja."

"Würde er auch zuhören, wenn Sie mit ihm über Ihr Versprechen reden wollten?"

"Ja, sicher, zuhören tut er immer. Aber ich will darüber ja gar nicht mit ihm sprechen."

"Verstehe. Zuhören würde er, Ihr Versprechen steht für Sie aber nicht zur Diskussion. – Was sagt Gott wohl zu Ihrem derzeitigen Unglück?"

Die Antwort von Frau G. kommt sofort: "Es tut ihm sehr leid, dass es nicht funktioniert mit uns, aber trennen soll ich mich nicht.

 

Gott in den Köpfen anderer ist offenbar echt ein harter Sparringspartner. Ich merke, dass ich sauer auf ihn bin! Was ist das für ein Mist: Wenn Frau und Herr G. nicht wenigstens die Option zulassen, dass sie ihre Beziehung, die keine mehr zu sein scheint, auflösen können, bleiben sie wohl unglücklich und ziehen sich gegenseitig noch mehr in die emotionale Verzweiflung. Wofür soll das gut sein? Damit Gott das letzte Wort behält?

So bleibt mir nur die Frage, was passieren wird, wenn sie heute nach der Sitzung unverstanden und ohne Verabredung, wie es weitergeht, die Praxis verlassen.

"Ich rufe meine beste Freundin an", sagt Frau G. zum Glück.

"Das ist gut", sage ich. "Was meint die denn zu Ihrem Dilemma?"

"Das Gleiche wie Sie. Wenn's vorbei ist, musst du gehen."

"Interessant. – Könnten Sie da beim lieben Gott nicht doch noch mal nachfragen, ob das Versprechen verhandelbar ist?"

Der Blick von Frau G. signalisiert: Haben Sie mich nicht verstanden? Ich kann mich nicht trennen!

 

Der heutige Abschied vom Noch-Ehepaar G. ist traurig-verzagt, der Händedruck an der Praxistür jeweils ausgesprochen kraftlos.

Ich fühle mich hilflos. Gegen Gott bin ich heute nicht angekommen. Es fühlt sich an wie eine Niederlage nach Punkten gegen einen offenbar stärkeren Gegner.

 

 

Ich bin nicht allein

 

Die letzte gemeinsame Sitzung voller Verzweiflung und ohne Happy End fällt mir sofort wieder ein, als mich die E-Mail von Frau G. erreicht.

Ich war mir damals vor acht Monaten so sicher wie selten gewesen, dass Lena und Patrick G. es nicht mehr schaffen würden, wieder zusammenzukommen, sodass ich sogar von mir aus vorgeschlagen hatte, gemeinsam die Möglichkeiten einer Trennung auszuloten.

Mein vorsichtiger Vorstoß war der Satz, den ich vor allem Frau G. anbot: "Das Letzte, was du darfst, ist aufgeben."

Lena G. wollte sich das aber nicht erlauben, vor allem, weil sie es am Traualtar vor Gott versprochen hatte, auch in schlechten Tagen zu ihrem Mann zu stehen. Auf meine Frage, was Gott zu ihrem Unglück sage, hatte sie geantwortet: "Ich muss weiter durchhalten und an Patrick und unsere Ehe glauben."

Damals hatte ich meinerseits gegen den überraschend auftauchenden himmlischen "Sparringspartner" aufgegeben – und nun bekomme ich durch die Nachricht von Frau G. eine zweite Chance. Sie schreibt: "Mir geht es zurzeit sehr schlecht. Patrick und ich sind seit einiger Zeit getrennt, ich kann aber noch nicht wirklich loslassen, obwohl ich weiß, dass ich ihn nicht ändern kann. Haben Sie noch mal einen Termin für mich?"

 

Nun sitzen wir uns wieder gegenüber und ich höre erst einmal zu.

Herr G. hatte weiterhin keine ernsthaften Versuche unternommen, einen neuen Arbeitgeber in Hamburg zu finden, er arbeite weiterhin 250 Kilometer entfernt, und die letzten Gespräche zwischen den (Noch)Ehepartnern verliefen nach der Schilderung von Frau G. "katastrophal". Nun herrsche seit ca. drei Monaten Funkstille, Herr G. habe aber schon seine Sachen aus ihrer Hamburger Wohnung abgeholt. Hoffnung auf eine Beziehungszukunft hat Frau G. jetzt nicht mehr. Nur ihr Herz ist noch nicht so weit. Es leidet vor allem unter der Vorstellung, dass sie dann irgendwann "eine geschiedene Frau" sein wird: "Das ist ganz, ganz schlimm für mich."

Ich wage mich vor und frage, ob sie schon einmal in ihrem Leben eine vergleichbar schwere Erfahrung gemacht hat wie jetzt, und Frau G. berichtet von einer ähnlich schmerzhaften Trennung von ihrem ersten Freund vor zwanzig Jahren. "Aber jetzt weiß ich gar nicht, ob ich noch einmal einen Partner finden würde."

"Nur mal so zur Orientierung", frage ich, "was würden Sie sagen, wie schmerzhaft die Situation heute für Sie ist, zum Beispiel auf einer Skala von eins bis zehn?"

"Ich denke, so sieben bis acht."

"Und die Trennung damals von Ihrem ersten Freund?"

"Die war auch sehr, sehr schlimm, aber rückblickend wohl eher so sechs bis sieben."

"Heute tut es also noch etwas mehr weh als damals."

"Ja!" Jetzt beginnen die Tränen über die Wangen von Frau G. zu rollen.

Es dauert eine Weile, bis ich mich weiterzureden traue.

"Ich habe gerade überlegt, was Sie sich wohl gewünscht haben, als Sie mich um einen Termin baten. Was könnte in so einer schmerzlichen Situation ein bisschen Linderung schaffen?"

Ich höre ein weiteres Schluchzen und dann leise: "Wenn ich Patrick loslassen könnte. Ich weiß ja, dass es nicht mehr geht."

"Wir könnten hier das Loslassen ein bisschen üben?", frage ich.

"Ja. Aber wie soll ich das üben?"

"Vielleicht, indem Sie sich vorstellen, in dem Sessel da drüben säße Patrick und Sie würden ihm sagen: 'Es geht nicht mehr mit uns. Ich lasse dich jetzt los.'"

Ich merke an der körperlichen Reaktion von Frau G., dass diese Vorstellung sie zu überfordern scheint, und gehe zwei Schritte zurück. "Das wäre nur so eine Idee. Sie muss ja nicht passen."

Frau G. schaut mich mit verweinten Augen an und sagt: "So weit bin ich noch nicht, glaube ich."

"Würde vielleicht noch ein zweiter Sessel dastehen, und dem würden Sie sagen: 'Ich weiß, dass ich dich loslassen müsste, aber das fällt mir sehr schwer?'"

Frau G. reagiert kaum auf mein Stühleangebot. Sie wirkt gerade sehr zart und zerbrechlich auf mich. Und ganz doll traurig und alleine.

Vielleicht ist das ein besser passender Ansatz.

Vorsichtig taste ich mich wieder vor: "Wie wäre es, wenn wir mal überlegen, was gegen das Gefühl des Alleinseins helfen könnte?"

Frau G. schaut auf und mich an.

"Ich denke mir, dass es vielleicht leichter wird mit dem Loslassen, wenn die Angst vor dem Alleinebleiben nicht so groß wäre."

Jetzt nickt Frau G. kaum sichtbar.

"Nur mal vorgestellt, in Zukunft taucht dieses Gefühl der Einsamkeit wieder auf, mit welchem Satz könnten Sie ihm dann Paroli bieten?"

Ich sehe in dem Gesicht, dass Frau G. sich auf diese Idee einzulassen versucht.

Und sie sagt: "Du hast alles versucht."

"Das stimmt", sage ich. "Den Eindruck habe ich auch, Sie haben alles versucht, um die Ehe mit Patrick zu retten. – Wie wäre es, wenn Sie sich sagen würden: Ich habe alles versucht!"

"Gut."

"Soll ich den Satz mal aufschreiben, oder wollen Sie das machen?"

Ich greife zu dem Block auf dem Tischchen neben meinem Sessel und gebe Frau G. auch einen Schreiber dazu.

Sie schreibt.

"Ich habe alles versucht. Das ist ein guter, kräftiger Satz. Sie können gerne dazuschreiben: Herr Hansen sagt auch, dass ich alles versucht habe."

Ein zartes Lächeln huscht über das Gesicht von Frau G.

"Welcher Satz würde noch helfen?", frage ich weiter.

"Du kannst deinem Gefühl trauen, auch wenn Patrick dir einreden will, dass du spinnst."

"Genau", sage ich. "Wie wäre es mit, ruhig in der Ich-Form: Mein Gefühl stimmt!"

Wieder schreibt Frau G., jetzt schon mit ein bisschen mehr Energie.

Vorsichtig weiter.

"Was noch?", frage ich.

"Du hast eigentlich ein gutes Leben. Du magst deinen Job, deine Kollegen, du hast Freunde, eine Familie, die zu dir steht ..."

"Ja, genau ...", versuche ich zu bestätigen, aber irgendetwas passiert gerade.

Frau G. steigen wieder die Tränen in die Augen.

"Hmm, war der Satz doch nicht so gut?"

"Nein, es fühlt sich alles so furchtbar einsam an!"

Frau G. legt den Schreibblock zur Seite und greift wieder zu einem Papiertaschentuch.

"Vielleicht sagen das ja auch Ihre Freunde: Du hast doch eigentlich ein tolles Leben ..."

"Ja, so ungefähr ... ich habe aber gar kein tolles Leben, wenn ich wieder alleine bin und vielleicht alleine bleiben werde ..."

Jetzt sage ich mit fester Stimme: "Okay, der Satz passt dann eben nicht so doll. Wir hatten aber schon zwei gute gefunden ..."

"Ja", bestätigt Frau G. und nimmt den Block wieder an sich. "Ich habe alles versucht und Mein Gefühl stimmt!"

"Super! Ich habe alles versucht und Mein Gefühl stimmt!" Pause.

Die Sätze wirken.

Gerade noch mal die Kurve gekriegt.

Plötzlich denke ich wieder an die gemeinsame letzte Sitzung mit dem Ehepaar G. und dass sich Gott in unser Gespräch eingeschlichen hatte.

Vielleicht kann der mir jetzt ein bisschen helfen.

"Mir fällt gerade ein, dass Ihnen ja Ihr Versprechen vor Gott eine wichtige Richtschnur gewesen ist, Sie sollten nicht nachlassen, an Ihre Ehe zu glauben. Sprechen Sie noch mit ihm?"

"Ja, jeden Tag. Der ist immer da für mich."

"Ah, genau. Gott ist immer da."

Habe ich das gerade gesagt?

Ja, das hast du gerade gesagt, damit es Frau G. hilft, sagt eine meiner inneren Stimmen, mit denen ich in Beratungen Zwiesprache halte. Lass mal, du musst es ja nicht glauben. Es reicht, wenn Frau G. es glaubt.

Und dann sage ich: "Wäre es dann nicht so, dass der Satz stimmt: Ich bin nicht allein!"

"Ja, das stimmt. Gott ist immer für mich da."

"Das ist klasse. Passt der Satz zu den anderen, die Mut machen könnten?"

Frau G. nickt und schreibt erneut.

"Ja, der ist gut. Ich bin nicht allein."

"Vielleicht noch das nicht unterstreichen?", schlage ich vor und sehe, wie Frau G. es auf ihren Notizen tut.

Es läuft ganz gut, sagt die innere Stimme. Lass mal los von deinen Gotteszweifeln, ist ja offenbar eine große Hilfe, wenn man an ihn glauben kann. Und heißt es nicht in der Medizin: Wer heilt, hat recht.

 

Frau G. schaut wieder auf und sagt nun von sich aus: "Wir brauchen noch einen Satz, falls Patrick sich jetzt von sich aus von mir trennt. Das ist nämlich noch eine ganz große Angst von mir."

"Ach so, das würde Sie noch einmal zusätzlich verletzen, wenn Patrick gehen würde?"

"Ja, dann würde ich mich noch weniger wert fühlen, obwohl ich ja alles versucht habe. Und mein erster Freund hat mich damals auch verlassen. Das will ich nicht noch einmal erleben."

"Und welcher Satz würde dagegen dann vielleicht helfen?"

"So was wie: Du bist ja schon längst weg gewesen. Du kannst mich gar nicht mehr verlassen."

"Schreiben Sie ruhig auf: Du bist ja schon weg! Passt das?"

"Ja, du bist ja schon weg!", wiederholt Frau G. energisch.

"Nicht schlecht, oder? Was wir da alles schon zusammen haben!"

Frau G. schaut auf ihre Notizen und wirkt wesentlich gefasster und stärker als noch vor einer halben Stunde.

"So weit erst mal?"

"Ja, das ist gut."

"Und wenn Sie jetzt die Sätze anschauen, die Sie gefunden haben, um sie sich sagen zu können, wenn Sie einsam sein sollten, welcher wäre dann der wichtigste?"

"Ich glaube, der Satz: Ich bin nicht allein."

"Stimmt ja auch: Sie sind nicht allein. Gott ist immer für Sie da, haben Sie gesagt."

Nach einer kleinen Pause frage ich wiederum: "Und was machen Sie jetzt noch nach unserer Sitzung?"

"Meine Freundin wartet schon auf mich, und dann gehen wir noch zusammen essen."

"Super", sage ich. "Sie sind nicht allein."

Frau G. steht auf, steckt den Notizenzettel in ihre Handtasche und streckt mir ihre Hand entgegen.

"Vielen Dank!", sagt sie und schaut mich offen und gar nicht mehr verweint an.

"Sehr gerne", antworte ich. "Vielleicht sehen wir uns ja noch einmal wieder."

 

Diesmal war Gott kein Blockierer, sondern ein Verbündeter. Es ist wohl etwas dran am Grundsatz: Du kannst nur hilfreich sein, wenn du dich in der Beratung wirklich auf die Welt deines Gegenübers einlässt. Du musst es ja nicht genauso sehen ...

Gäbe es einen Gott, würde er wahrscheinlich auch zu mir sagen: "Sag ich doch."

 

© Hartwig Hansen

 

Erschienen in der: Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung, Heft 4/2024, S. 185-189