Zipfelmütze trifft Bodentreppe
"Und – wie war Ihr Urlaub? Wollten Sie nicht mit dem Rad nach Dresden?"
Heute wähle ich eine unverfängliche Eröffnung unserer vierten gemeinsamen Sitzung.
"Ja, genau, da waren wir auch. Dresden – sehr schöne Stadt! Lief im Grunde alles prima. – Na ja, so ein paar Reibereien gab es schon auch in der Gruppe. Das
muss ja so sein."
Herr P., 67, pensionierter Lehrer, und seine Frau sind in ihrem Ruhestand gemeinsam erstaunlich aktiv. Sie haben schon von einer langen Gruppenwanderung in den
Pyrenäen berichtet und heute eben von der mehrwöchigen Radtour mit Freunden die Elbe hoch.
Frau P., eine fast gleichaltrige ehemalige Ärztin, ergänzt nun aus ihrer Sicht: "Die Tour war wirklich schön, eigentlich haben wir das sehr gut hingekriegt. Aber
ich habe heute trotzdem ein altes Thema mitgebracht, was ich schon kenne. Das ist auf unserer Radtour wieder erstaunlich lästig aufgebrochen. Du weißt, was ich meine, Manfred?"
"Ich glaube schon ... – Ist es die Sache mit den Sturmresten?"
Ich werde neugierig. War meine Eröffnungsfrage offenbar doch nicht so unverfänglich.
"Ja, die meine ich", sagt Frau P. und blickt zu Boden, um ihre Gedanken zu ordnen.
Nach einer Pause versuche ich einen Einstieg: "Sturmreste – was mag sich dahinter verbergen?"
"Das ist seitdem zu unserem Stichwort geworden", sagt Frau P. "Mein Mann hat Fotos von der Reise ins Album geklebt und unter das Bild mit einem über die Straße
gefallenen Baumstamm 'Sturmreste' geschrieben. Und darüber habe ich mich wahnsinnig aufgeregt, was Manfred gar nicht verstanden hat. Das war nämlich ein richtiger Sturmtag und ich wollte mit dem
Rad nicht weiterfahren, die anderen aber schon. Ich hatte die ganze Zeit höllische Angst, dass uns was passiert. Und dann schreibt er unter das Foto: Sturmreste. Super!"
"Im Grunde war der Sturm schon weitergezogen", verteidigt sich Herr P. "Wir sind ihm doch wirklich hinterhergefahren, Gisela."
"Du hast es immer noch nicht kapiert!", braust Frau P. nun auf. Man kann spüren, dass da noch etwas brodelt. Also ganz langsam voran!
"Könnte man 'Sturmreste' vielleicht auch doppeldeutig verstehen?", frage ich vorsichtig.
"In gewisser Weise schon", antwortet Frau P. jetzt wieder etwas ruhiger, "ich habe das öfter, dass ich mich ganz schnell nicht ernst genommen fühle und dann, wenn
ich sage, dass es mir nicht gut geht und ich etwas anderes möchte, ist da ruckzuck das Gefühl, dass ich ausgeschlossen bin. Und je mehr ich mich dann verständlich machen will, desto schlimmer
wird es und ich nerve alle."
"Okay", sage ich. "Was ich bisher verstanden habe, ist Folgendes: Es gab auf Ihrer Radtour einen Sturm ..."
"Der war im Grunde schon weg ...", unterbricht Herr P.
"Das glaube ich jetzt nicht, Manfred!", ereifert sich Frau P. erneut.
"Okay, ich fange noch mal an", versuche ich der Streitspirale um "die Wahrheit" zuvorzukommen. "Es gab eine Auseinandersetzung darüber, ob Sie an einem stürmischen
Tag mit dem Rad weiterfahren wollen oder lieber nicht."
Beide nicken.
"Und eigentlich geht es um ein altes Gefühl von Ihnen, Frau P., dass Sie sich mitunter nicht ernst genommen fühlen – wie offenbar jetzt immer noch."
Jetzt nickt Frau P.
"Dann entsteht so ein Kampf, der furchtbar anstrengend ist und sich manchmal fast schon existenziell anfühlt, weil es um das tiefe Gefühl geht, nicht ernst genommen
zu werden?"
"Ja, genau."
Pause.
Ich schaue Frau P. direkt an.
"Jetzt habe ich eine schwierige Frage ... Sie sagten, dass Sie das Gefühl schon von früher kennen. Wie alt ist Gisela, als dieser anstrengende Kampf
anfing?"
Frau P. erwidert meinen Blick, dann schaut sie an mir vorbei über meinen Kopf hinweg.
Nach nur kurzem Überlegen antwortet sie gefasst: "Ich würde sagen, ungefähr zehn."
"Hmhm, ungefähr zehn. – Was meinen Sie? Hat die zehnjährige Gisela etwas mit den erwähnten Sturmresten zu tun?"
"Sehr wahrscheinlich", ist die knappe Antwort von Frau P.
Ich schaue erst Frau P. an und nicke – "Zehn ..." – und blicke dann zu ihrem Mann: "Wussten Sie, dass Sie es beim Stichwort Sturmreste auch mit der
zehnjährigen Gisela zu tun haben?"
"Nicht so wirklich, ich bin gespannt", sagt Herr P. und schaut seine Frau liebevoll an.
"Nun kommt meine nächste Frage", wende ich mich wieder an Frau P. "Wo lebten Sie wohl damals und was erinnern Sie aus dieser Zeit?"
Frau P. ist "schon im Film".
"Damals, Anfang der 60er, lebten wir auch schon in Hamburg und ich weiß noch, wie ich mich jeden Morgen mit meiner Mutter gestritten habe, was ich zur Schule
anziehen sollte. Sie wollte immer, dass ich so kratzige Sachen anziehe, die wirklich hässlich waren. Die waren unbequem und ich mochte sie nicht. Meine Mutter hat aber richtig heftig darauf
bestanden, dass ich 'ordentlich' aussehen sollte."
"Anfang der 60er ...", überlege ich laut.
"Ja. War so damals, ist klar. Aber am schlimmsten war diese rote Zipfelmütze. Die musste ich ab den ersten Herbsttagen ständig tragen, wahrscheinlich weil meine
Mutter sie mir extra gestrickt hatte, und ich habe sie gehasst."
"Wen – die Mütze oder Ihre Mutter?", hake ich spontan nach.
"Beide", antwortet Frau P. sofort. "Jeden Morgen eskalierte der Streit um diese fürcherliche Zipfelmütze. Meine Mutter hat einfach nicht begriffen, dass ich mir
damit total bescheuert vorkam. Und wenn dann gar nichts mehr ging, hat meine Mutter meinen Vater auf der Arbeit angerufen und gesagt, er müsse kommen und ein Machtwort sprechen."
"Und ist er gekommen?"
"Meistens ja. Aber er hat nicht geschimpft. Er hat dann gesagt: 'Komm, ich fahr dich zur Schule, es ist schon spät.' Dann saß ich hinter ihm auf dem Gepäckträger
von seinem Fahrrad und ich hatte die Mütze in der Schultasche."
"Das ist ja ein schönes Bild, oder?"
"Ja, mein Vater wollte auch keinen Streit. Und die Fahrten zur Schule waren 'unsere Zeit'."
Wieder schaue ich zu Herrn P. und frage: "Wussten Sie das? Kannten Sie diese Geschichte?"
"Herr P. schüttelt den Kopf, und seine Frau antwortet statt seiner: "Nee, die hab ich noch nie erzählt, die ist mir ja eben erst wieder klar geworden."
"Klasse", sage ich. "Sie haben gerade rausgefunden, dass diese Zipfelmütze offenbar heute noch ihre Macht entwickeln kann. Gäbe es eine Chance, das in eventuellen
zukünftigen 'Stürmen" zu berücksichtigen. Mal ganz gewagt fantasiert: Könnte Ihr Mann ein humorvolles Stichwort einbringen, wenn es sich gerade wieder so anfühlt, als könnte ein Sturm
losbrechen?"
"Wie meinen Sie das?", will Herr P. wissen.
"Na ja, wenn das Gefühl, sich in aktuellen Auseinandersetzungen nicht ernst genommen zu fühlen, mit der zehnjährigen Gisela und kratzigen Strickwaren zu tun hat,
könnte es ja vielleicht helfen, wenn diese noch kleine Gisela freundlich und liebevoll angesprochen wird. Nur mal so als Beispiel, wenn Sie dann sagen würden – vorausgesetzt, Sie vereinbaren das
jetzt: 'Wie geht es jetzt der zehnjährigen Gisela?' Oder 'Eigentlich steht dir die Zipfelmütze wirklich gut, auch wenn sie kratzt.' So was ..."
"Oha, das geht aber nur, wenn es nicht schon zu spät ist", wirft Frau P. ein.
"Ist klar. Ich überlege nur, wie Sie eine hilfreiche Sprachregelung finden können, die das, was Sie geschildert haben, berücksichtigt und zur Entspannung führen
kann, weil so ein Satz sanft auf das 'Eigentliche' hinweist, sodass eine Atempasue entsteht und vielleicht gegenseitiges Verständnis."
Herr P. hat eine Idee und freut sich: "Wie wäre es mit: 'Ich nehme mein Fahrrad und hole dich ab?'"
Dabei lächelt er seine Frau sehr freundlich an.
Wäre zwar eine Verwechslung, Herr P. soll ja nicht zu ihrem Vater werden, denke ich bei mir, aber schauen wir mal, wie Frau P. das findet.
"Ja-a", überlegt Frau P., "vielleicht. Wäre 'ne Möglichkeit."
"Den Satz können wir uns ja als Option schon mal merken. Wie wäre es für Sie, Frau P., wenn Sie dann sagen könnten: 'Ich habe gerade wieder die Zipfelmütze auf'?
Damit Ihr Mann schon mal weiß, was gerade angesagt ist."
"Der merkt das ja schon unabhängig davon", weiß Frau P.
"Mag sein, aber es wäre eine neue Form des Besprechbar-Machens. Haben Sie und Ihre Mutter damals eigentlich jemals über die Zipfelmützenstreits in Ruhe sprechen
können?"
"Nein, nie, jeden Morgen das Riesen-Trara und ich sei bockig und ungezogen und so weiter, aber danach kein Ton mehr darüber."
"Anfang der 60er hatten Sie ja schon gesagt, okay. Das war vielleicht so eine Zeit ... Ich glaube ja, dass es leichter wird, wenn man es später noch mal besprechen
kann, was passiert ist. Dann entsteht auch nicht dieses zehrende Gefühl, irgendwie nicht mehr dazuzugehören."
"Das ist richtig. Ich hätte mir auch sehr gewünscht, dass wir über die Sturmreste danach noch mal in Ruhe reden, aber Manfred begreift es einfach
nicht."
"Doch, jetzt hab ich was begriffen, Gisela, und diese Begriffe können wir ja in Zukunft mal ausprobieren. Du musst mir nur noch mal sagen, ob die Idee, dich dann
'mit dem Fahrrad abzuholen', gut ist oder nicht."
"Ja, das ist eine liebe Idee, aber sei bitte nicht böse, wenn ich vielleicht dann doch noch nicht gleich aussteigen kann."
"Sie haben ja jetzt verschiedene Optionen besprochen und können üben, welche davon zur Deeskalation beitragen könnte."
Pause, nachdenkliches Schweigen und dann ein schöner Blickkontakt.
"Nun würde mich ja noch interessieren, wie es Ihnen in so einer Situation geht?"
Herr P. schaut mich an, überlegt und sagt dann: "Danke der Nachfrage. Ich verstehe Gisela jetzt schon besser, aber bisher eben nicht so. Dann denke ich manchmal:
'Muss das jetzt wieder sein?' Ob ich nun unter das Foto 'Nach dem Sturm' oder 'Sturmreste' drunterschreibe, warum regt sich Gisela so darüber auf?"
"Wegen der Vorgeschichte und wegen der zehnjährigen Gisela, die wir eben kennengerlernt haben", sage ich, um Frau P. zuvorzukommen.
"Ja, sicher, aber ich versuche dann, dem aufziehenden Streit irgendwie aus dem Weg zu gehen und mich in Sicherheit zu bringen."
"Gelingt Ihnen das?"
"Nee, das Gewitter verfolgt mich dann oder wir reden lange gar nicht miteinander."
"Nicht schön", sage ich.
"Nein, gar nicht schön", bestätigt Herr P.
"Darf ich Sie vielleicht auch fragen, wie alt der Manfred ist, der angefangen hat zu versuchen, dem Streit aus dem Weg zu gehen und sich
zurückzuziehen?"
"Oha", sagt Herr P. und ist plötzlich ganz woanders. "Mann, Mann, Mann."
"Was mag das heißen?"
"Na, ist sitze plötzlich auf dieser Treppe, die zu meinem Bodenzimmer hochführte."
"Aha, und ...?"
"Da war ich vielleicht so zwölf, dreizehn. Mein Vater hatte den Dachboden in unserem Haus in Karlsruhe ausgebaut, damit ich ein eigenes Zimmer habe. Unten ist dicke
Luft und ich sitze schmollend, aber sicher kurz unterm Dach und hör mir das alles von oben an."
"War das so etwas wie Ihr Rückzugsort? Die Bodentreppe war sicher und Sie konnten bestimmen, wann Sie wieder runtergehen?"
"Mann, Mann, Mann, die alten Kamellen", sagt Herr P. und schmunzelt.
"Ich find's ja gar nicht schlecht, wenn wir jetzt auch noch Worte für das Gegenstück rausgefunden haben", sage ich.
"Ne, ne, ich auch nicht", sagt Herr P. und fragt: "Ich hab dir doch mal das Dachzimmer gezeigt, Gisela, oder?"
"Ja, das hast du mir mal gezeigt. Und ich kann mir gut vorstellen, wie du da als Junge gesessen hast auf der Zugbrücke zu deinem kleinen Reich. Ich wusste nur noch
nicht, dass das dein Platz war, wenn es Streit gab in der Familie. Klingt ja fast wie ein Sehnsuchtsort."
"Ja – und auch wieder nicht so", überlegt Herr P. "Ich sehne mich nicht danach zurück, ich dachte nur eben daran, weil ich ja auch bei uns nicht immer gleich bereit
bin, wenn du wieder Friedensangebote machst. Ich will dann schon selbst bestimmen, wann ich wieder runterkomme von der Bodentreppe. Wenn meine Mutter nach mir gerufen hat, habe ich oft nicht
reagiert."
"Dürfte Ihre Frau dann in Zukunft das Stichwort 'Bodentreppe' liebevoll ansprechen, wenn sie zur Versöhnung bereit ist?"
"Ich glaube, ich wäre dankbar dafür, weil da oben war es schon manchmal ganz schön einsam. Aber bitte wirklich lieb und nicht fordernd, Gisela."
"Wie wär's mit: 'Darf ich hochkommen?' Oder 'Ich klopfe an deine Bodentür?'"
Jetzt schaut Frau P. ihren Mann sehr sanft an.
Der nickt. "Ja, so was in der Art."
"Nicht schlecht", sage ich nach einer Atempause. "Zipfelmütze trifft Bodentreppe ... Jetzt gibt es ganz neue Möglichkeiten, aus einem emotionsgeladenen Gerangel
auszusteigen. Sie kennen jetzt die Stichworte und die wirklichen Gefühle des anderen. Vielleicht wird es damit in anstrengenden Situationen in der Zukunf oder danach im Rückblick neu ansprechbar.
Ich drücke die Daumen und sage herzlichen Dank!" Denn die Sitzung neigt sich dem Ende zu.
"Wir haben zu danken", sagt Frau P., "und wir werden berichten."
"Ist denn jetzt eigentlich noch etwas übrig geblieben von den Sturmresten, das Sie besprechen möchten?"
"Hat sich erledigt", sagt Herr P. amüsiert. "Insgesamt war die Dresdentour wirklich toll."
"Meistens sind wir ja auch mit Helm gefahren und nicht mit Mütze", schmunzelt Frau P.
© Hartwig
Hansen
Erschienen in der Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung 2/2020