Rezension über das Hörbuch:
Mehr vom Leben, Frauen und Männer mit Behinderung erzählen
Hörbuch mit über 40 bekannten Stimmen,
herausgegeben vom Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen e.V.,
Balance buch + medien, Bonn, in: Soziale Psychiatrie, 36. Jg., 2/2012
Den Klang der Augen hören
Also gleich mal vorweg: Ich kenne nichts Vergleichbares. Dieses Hörbuch ist ein großer Wurf – in ihm steckt sehr viel Arbeit!
Julia Fischer, Anne Ott und Fabian Schwarz schreiben als Herausgeber/innen im CD-Booklet, wie dieser große Wurf entstand: „Im Frühjahr 2009 riefen die Aktion Mensch
und der Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen e.V. Frauen und Männer mit Behinderung dazu auf, Geschichten über ihr Leben einzusenden. (...) Der Wettbewerb sollte Aufschluss
darüber geben, wie Menschen, die mit Behinderung leben, ihr Frau-Sein bzw. Mann-Sein erleben und welche Rolle die Geschlechtlichkeit in ihrem Leben spielt.“
Für das 2010 erschienene Buch Mehr vom Leben wurde aus den rund 300 eingesandten Texten 80 ausgewählt. „Darin gibt es Erfahrungsberichte von
Menschen, die von Geburt an behindert sind, und Berichte von Menschen, deren Behinderung die Folge eines Unfalls ist. Es gibt Geschichten, die die immer noch zahlreichen Hürden des Alltags für
Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft anprangern, ebenso wie solche, die persönliche Erfolge feiern.“
Zum Beispiel die von Matthias Müller, 48 Jahre (in der Rubrik Frauenträume, Männerträume):
„Und dann kam der Satz, den er sich in so vielen Träumen gewünscht hatte zu hören und den er jetzt, wo er eben gesagt wurde, fast nicht glauben konnte: ‚Marc,
aufgrund dieser Veränderung können wir es wagen, Ihnen die Tauglichkeit zum Führen eines Fahrzeuges zu bescheinigen.’“
Das Buch Mehr vom Leben ging in der Folge erfolgreich „auf Tournee“. Der Einladung des Verlages, das Buch öffentlich vorzustellen, folgten eine
Reihe prominenter Menschen aus Funk, Fernsehen, Theater und Politik. Sie konnten später auch rasch von der Idee, gemeinsam ein Hörbuch aufzunehmen, begeistert werden: So liehen Dirk Bach, Annette
Frier, Guildo Horn, Gerburg Jahnke, Maite Kelly, Mariele Millowitsch, Wolfgang Niedecken, Hella von Sinnen, Marietta Slomka, Anne Will und viele andere den beeindruckenden Texten für dieses
Hörbuch ihre Stimme. Zum Beispiel dem von Andrea Homann (in der Rubrik Frauenleben, Männerleben): „Am 13.6.1964 erblickte ich das Licht der Welt. Ich weiß gar nicht, was für ein Tag das war.
War’s wohl an einem Montag, Dienstag, Mittwoch? Oder an einem Donnerstag? Oder an einem Freitag? Oder war’s an einem Samstag oder Sonntag? Hatte es geregnet, hatte es Gewitter
gegeben? Oder hatte für mich die Sonne geschienen? Ich wollte es schon immer gerne wissen – nur keiner weiß es mehr so genau ...“
Die Beiträge weisen auf das hin, was uns sonst nicht (mehr) bewusst ist, was anders ist und sein kann, sie legen ihr Augenmerk auf kränkende Erfahrungen und
persönliche Lösungsversuche. So schrieb Mandy König, 35 Jahre: „Einmal hatte eine Freundin von mir telefonisch Plätze in einer Bar bestellt. Als der Einlasser uns sah, hat er uns nicht
reingelassen. Wir waren enttäuscht und mussten unseren Abend woanders verbringen. Jetzt sind wir schlauer und besuchen gerne Oldie-Discos. Da ist die Atmosphäre toll und das Publikum akzeptiert
uns.“
Es ist Vergnügen und Bereicherung zugleich, sich von den Stimmen und Texten berühren und durch dieses Hörbuch treiben zu lassen. Man begegnet eindrücklichem
Aufschreien: „Ich möchte endlich ein Leben führen, das mich teilhaben lässt, eine Tätigkeit ausüben, die mich nicht überfordert, der ich mich gewachsen fühle und bei der ich auch mal schwach sein
darf. Und: Ich möchte nicht jeden Cent dreimal umdrehen, denn momentan bin ich Geringverdienerin.“ (Sabine Siol, 48 Jahre, Rubrik Wohnen und Arbeiten) und sehr Anrührendem: „Ich trage so viel
Liebe in mir, und niemand wollte sie haben. Wenn ich so viel Liebe geben möchte, so viel Liebe in mir trage, wohin damit?“ (Mandy Meyer, 22 Jahre, Rubrik Liebe und Lust)
Und man hat die Chance, echte Perlen von außergewöhnlicher literarischer Intensität zu entdecken. Haben Sie jemals über den Klang der Augen nachgedacht? Der
erblindete Michael Haaga hat es getan und macht seiner ebenfalls blinden Partnerin eine Liebeserklärung besonderer Art, indem er
beschreibt, wie er eines Tages das Geräusch wahrnahm, das ihre Augäpfel in der Bewegung verursachen.
Solche Texte, solche Hörerlebnisse machen dieses Hörbuch einzigartig. Wie gesagt: Ich kenne nichts Vergleichbares! Ute Hüper und dem Balance Verlag gebührt ein
Extralob für die große Leistung, die Produktion dieses Hörbuch – mit immerhin 403 Minuten Gesamtlaufzeit – koordiniert zu haben!
Hartwig Hansen, Hamburg